
In der Produktentwicklung investieren Teams viel Zeit und Energie in Prototypen – oft mit dem Ziel, möglichst schnell ein funktionsfähiges „Vorzeigeprodukt“ in der Hand zu halten. Doch genau hier entsteht ein häufiger, aber kaum beachteter Engpass: Zu viel Aufwand wird in Prototypen gesteckt, die zu wenig Erkenntnis liefern.
Ich bin Ingenieur. Ich liebe es, Dinge zum Laufen zu bringen. Systeme, Mechanik, Technik – wenn etwas in der Realtität funktioniert, ist das ein gutes Gefühl und das will man so schnell wie möglich erreichen. Aber genau hier lauert eine große Falle, die ich immer wieder sehe – und der ich selbst auch schon zum Opfer gefallen bin: Im Prototyping wird wahnsinnig viel Zeit und Geld verschwendet.
Der überraschende Grund? Unwissenschaftliches Arbeiten.
Ein Prototyp ist laut Definition ein „Versuchsmodell eines geplanten Produkts“. Das zentrale Wort hier ist „Versuch“ – jeder Prototyp ist ein Experiment. Und was machen wir in einem Experiment? Wir stellen eine Hypothese auf und testen sie.
Doch genau das passiert in der Praxis erstaunlich selten. Statt gezielt Hypothesen zu prüfen, soll ein einzelner Prototyp plötzlich alles leisten:
- Die technische Machbarkeit zeigen
- Produktionsprobleme aufdecken
- Schwachstellen im Konzept sichtbar machen
- Die USPs validieren
- Kunden und Investoren begeistern
- Und natürlich: rechtzeitig zur Messe fertig sein
Im schlimmsten Fall ist gar kein klares Ziel gesetzt. Nach dem Motto: einfach mal bauen, dann werden wir schon sehen. Natürlich erlangt man auch dadurch Erkenntnisse, aber zu welchem Preis? Gleich zu versuchen, einen seriennahen Prototyp zu entwickeln ist ein enormer Aufwand.
Wenn ich eines gelernt habe, dann das: Man muss zuerst die größten Unsicherheiten angreifen.
Fail fast – ja, auch in der Hardware.
Ist z. B. ein bestimmtes technisches Element besonders riskant? Dann baue einen Demonstrator genau dafür. Bevor Monate in die Entwicklung eines vollumfänglichen Prototyps investiert werden, sollte das Risiko isoliert getestet werden.
Der richtige Ansatz beginnt mit den richtigen Fragen:
- Was sind eigentlich die zentralen Hypothesen hinter unserem Produkt?
- Warum hat das bisher niemand erfolgreich umgesetzt?
- Was ist die größte Unbekannte?
- Was stört Nutzer an bestehenden Lösungen?
Natürlich – wir können bei physischen Produkten nicht so einfach wie in der Software „Feature für Feature“ liefern. Ein Fahrrad ohne Lenker verkauft sich eben schlecht. Aber das heißt nicht, dass wir nicht modular denken können.
Mockups, Modelle und einfache Demonstratoren sind extrem wertvoll. Viele Kunden interessiert gar nicht, wie etwas technisch funktioniert. Sie wollen wissen: Funktioniert es? Und zu welchem Preis?
Ein gut gemachter „Mechanical Turk“, der eine Funktion nur simuliert, kann in einer frühen Phase völlig ausreichen, um wichtige Reaktionen von echten Kunden zu bekommen.
Verlässt man sich von Anfang an nur auf das eigene Gefühl oder die Idee des Produktmanagers, geht man ein hohes Risiko ein, dass das Produkt am Markt vorbei entwickelt wird.
Ja, öffentlich zu entwickeln ist unbequem und erfordert Mut. Aber eines ist sicher: Nichts ist teurer als ein fertiges Produkt, das keiner will.
Vielelicht gehen wir nochmal einen Schritt zurück und fragen uns, was konkrete Ziele für einen Prototyp sein können.
Verifikation und Präzisierung von Anforderungen
Ein wesentlicher Zweck eines Prototyps ist die kontinuierliche Präzisierung und Verifizierung von Anforderungen im Entwicklungsprozess. Sie helfen, die Grenzen abstrakter Konzepte zu überwinden, indem sie diese in eine greifbare Form bringen. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – etwas in der Hand zu halten sagt mehr als tausend Bilder.
Die zentrale Frage ist: Wie genau stellt sich der Auftraggeber die Lösung vor?
Es kommt sehr häufig vor, dass zwei Menschen das Gleiche hören und völlig verschiedene Bilder vor dem inneren Auge haben. Das ist auch bei Entwicklungen der Fall. Nicht umsonst gibt es in professionellen Entwicklungen ausführliche Lasten- und Pflichtenhefte, um dieser Anforderung gerecht zu werden. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass die Anforderungen nicht präzise genug formuliert sind.
Ein Prototyp kann in diesem Zusammenhang schon eine einfache Skizze sein, die das Verstandene visualisiert und so vom Gegenüber überprüfbar macht.
Um auch Haptik und Optik zu überprüfen, kann es sich anbieten, frühzeitig Renderings oder KI-generierte Bilder sowie physische Mockups zu erstellen und an diesen die Akzeptanz frühzeitig zu testen. 3D gedruckte Modelle bieten sich dafür an.
Nicht nur mit Auftraggebern oder Kunden, sondern auch in der Kommunikation mit Teammitgliedern und anderen Abteilungen sollten Prototypen eingesetzt werden, insbesondere bei unterschiedlichen fachlichen Hintergründen.
Funktions- und Leistungstests
Physische Prototypen ermöglichen es, die reale Funktionalität eines Produkts unter verschiedenen Bedingungen zu testen. Ob für schnelle Machbarkeitsstudien, erste Performance-Tests oder als Vorserienmodell – ein physischer Prototyp hilft, die Leistungsfähigkeit eines Konzepts frühzeitig einzuschätzen. Dies ist besonders wichtig für Produkte mit komplexen mechanischen, elektronischen oder ergonomischen Anforderungen.
Als Erstes sollten natürlich die USPs eines Produkts möglichst systematisch und objektiv gemessen und verglichen werden.
Frühzeitige Fehlererkennung und Risikominimierung
Einer der Hauptvorteile des Prototypings ist die Möglichkeit, potenzielle Fehler und Schwachstellen frühzeitig zu erkennen und zu beheben, bevor erhebliche Ressourcen in die vollständige Entwicklung fließen. Im Sinne des Frontloadings spart dies langfristig Kosten und verkürzt die Markteinführungszeit.
Die große Schwierigkeit dabei ist es, Probleme frühzeitig zu erkennen. Meine Ansicht ist, dass es sich meistens lohnt, einzelne Elemente und kritische Interaktionen isoliert zu testen, da dies viel schneller umgesetzt werden kann, als die Komplexität der gesamten Baugruppe zu berücksichtigen. Idealerweise können sogar mehrere Tests parallel durchgeführt werden. Ein Mockup kann zum Test der Kundenakzeptanz genutzt werden während verschiedene Teams einzelne Unterbaugruppen oder Elemente in vereinfachten Demonstratoren analysieren.
Problematisch ist dabei jedoch der Grad der Vereinfachung. Werden z.B. skalierte Modelle verwendet, können die Effekte nicht immer auf das reale Objekt übertragen werden! Vor jeder Vereinfachung sollten daher die physikalischen Zusammenhänge analysiert und die Übertragbarkeit auf das fertige Produkt hinterfragt werden.
Kundenorientierte Entwicklung
Prototypen sind hervorragende Werkzeuge, um Feedback von potenziellen Kunden zu sammeln und die Entwicklung auf deren tatsächliche Bedürfnisse auszurichten. Dies führt zu höherer Zufriedenheit der Nutzer und damit besserer Marktakzeptanz.
Selbst wenn es aus finanzieller Sicht nicht erforderlich sein sollte, bietet es sich bei Endkonsumentenprodukten an, zu diesem Zweck eine Crowdfunding-Kampagne zu starten. Sind die Nutzer bereits in das Projekt investiert, ist das Feedback zum Produkt besonders ehrlich.
Eine iterative Vorgehensweise bietet sich hierbei an. Je nach Entwicklungsreife werden unterschiedliche Arten von Prototypen verwendet:
- Renderings, Mockups und Mechanical Turks noch bevor echte Technik umgesetzt wurde. Physische Modelle wecken dabei größeres Interesse als digitale.
- Videos und live Vorstellungen von Funktionsprototypen, sobald diese verfügbar sind.
- Sobald Prototypen eine angemessene Sicherheit aufweisen, sollten sie so schnell wie möglich unter realen Bedingungen direkt von späteren Nutzern getestet werden. Es kommt dabei häufig vor, dass der Nutzer das Produkt anders verwendet als vorgesehen, was unbedingt berücksichtigt werden sollte.
Einschätzung der Herstellkosten und -verfahren
Ein Prototyp ermöglicht es, ein Produktkonzept frühzeitig in die Realität umzusetzen und dabei verschiedene Fertigungsverfahren praktisch zu erproben. Durch die Herstellung des Prototyps bzw. das Anfragen kritischer Teile können Entwickler feststellen, welche Verfahren technisch umsetzbar, wirtschaftlich sinnvoll und qualitativ geeignet sind. Damit kann ein Prototyp auch konkrete Anhaltspunkte für den Materialbedarf, den Arbeitsaufwand in der Montage und die Produktionszeiten liefern.
Erfahrungsbasierte Einschätzungen werden so validiert und verschiedene Fertigungsverfahren quantitativ vergleichbar gemacht.
Fazit: Beschleunigung des Entwicklungsprozesses
Auch wenn es im ersten Moment nicht intuitiv scheint; frühzeitige und häufige Modelle, Mockups, Demonstratoren und Prototypen ermöglichen kürzere Entwicklungszeiten, eine Schonung von Ressourcen sowie die Einsparung von Kosten. Durch die Möglichkeit, Probleme frühzeitig zu erkennen, schnell zu iterieren und kontinuierliche Verbesserungen vorzunehmen, kann vermieden werden, dass das Projekt in eine Sackgasse gerät.